Der Weg ist das Ziel oder wie ich erkannte dass Hier und Jetzt wertzuschätzen

 Vor zwei Wochen genau habe ich einen Ausflug zu einem wunderschönen Berg in Kenya gemacht und durfte mal wieder meine Beine von einem guten Aufstieg und Abstieg spüren. Was ein Gefühl - die Anstrengung, das Pusten der Lunge, das Brennen der Oberschenkel - und dann das Glücksgefühl oben zu stehen und die Aussicht zu geniessen!




Ich kann nicht beschreiben wie sehr ich das vermisst habe, und habe eigentlich auch erst danach realisiert wie sehr es mir hier fehlt! Meine Sehnsucht nach den Bergen .. der Freiheit, das einfach-loslaufen-können, die Ruhe und Befriedigung die daran liegt. Ich hatte wirklich seit Mai 2023 keinen Berg mehr bestiegen. Ich war regelmässig laufen, aber ohne Überwindung von mehr als 200 Höhenmetern - keine Gipfel, keine Aussichten bis auf die von Hoteldachterrassen. 

Wie konnte ich meine Passion so vernachlässigen? Offensichtlich waren andere essentielle Dinge wichtiger in diesen letzten Monaten. Eine Komfortzone schaffen, ein soziales Netzwerk aufbauen, Freunde finden und mit ihnen Zeit verbringen. Zudem hat eine weitere Passion, meine Passion für die Arbeit als Ärztin und Chiurgin in Tansania, im Rückblick die von mir in der Schweiz so ausgiebig gepflegte Passion des Berge-begehens über einen langen Zeitraum wie ersetzt oder in den Hintergrund rücken lassen. Nun ist sie zurück, sehr drängend und fast bohrend. 

Meine Sehnsucht nagt an mir, stellt meine Entscheidung hier zu leben tagtäglich auf die Probe. Bis vor wenigen Wochen hatte ich keine Zweifel an dieser Entscheidung, der Gedanke an die Arbeit in einem Krankenhaus in der Schweiz kam mir wie eine Bestrafung, ein Rückschritt oder ein Kompromiss vor. Das Gefühl des Kompromisses überwiegt inzwischen, es wäre der Kompromiss zwischen einem Leben - nahe der von mir geliebten Berge, meinen Freunden, meiner Familie, in mitten Europas mit all seinen Vorzügen und mit deutlich mehr Geld - und der Arbeit in einem meist vollständig funktionsfähigen Gesundheitssystem mit einem hohen Angebot an Ressourcen und dem zurecht hohen Anspruch der Patienten. Hört sich nicht nach einem Kompromiss an, werden mir viele entgegenhalten. Und das stimmt sicher für die meisten Menschen, klingt es doch wie die Idealvorstellung. Und ich möchte das nicht bewerten. Ich habe sehr gern in der Schweiz gearbeitet, ich arbeite generell gern mit und für Patienten, egal wieviel Geld sie besitzen. Als Ärztin zu arbeiten ist äusserst dankbar und befriedigend, egal wo man sich auf dieser Welt befindet! Und um meine Wertschätzung gegenüber unseren Gesundheitssystemen zum Ausdruck zu bringen: Es ist äusserst befriedigend ja beglückend in einem funktionierenden System zu arbeiten. Die Krankenhäuser und Spitäler in denen ich 9 Jahre gearbeitet habe sowohl in  Deutschland als auch in der Schweiz erreichten ein sehr hohes Mass an Funktionalität. Ich bin extrem glücklich, dass ich davon und darin lernen durfte, dass ich das Privileg habe hier studieren, arbeiten und leben zu dürfen. Was fehlt mir also? 

Ich bin mir unsicher, ob es etwas ist, das mir fehlt... vielmehr ist es die Ungerechtigkeit auf dieser Welt, die schreiende Kluft zwischen Arm und Reich, die mir schon früh bewusst gemacht wurde, mit der ich durch die Bilder von meinen Eltern aus Äthiopien aufgewachsen bin.  Eine südafrikanische Rednerin aus meinem Global Surgery Kurs hat dieses Gefühl für mich mit einer Anekdote auf den Punkt gebracht. Ein europäischer Gast, der bei ihr in Kapstadt zu Besuch war, und gefragt wurde, ob er sich denn vorstellen könnte hier zu leben, antwortete: Er würde die tägliche Kluft zwischen Arm und Reich und die damit verbundene schmerzhafte Ungerechtigkeit nicht auf Dauer ertragen wollen.                                                  Sie nutzte diese Anekdote um darauf aufmerksam zu machen, dass viele Südafrikaner, sie schloss sich selbst ein, diesem Gefühl, diesem Schmerz gegenüber abgestumpft sind und die sozialen Umstände von vielen als schlicht gegeben angenommen werden. 

Ja, sehr wahrscheinlich bin ich naiv und ich bin mir bewusst dass auch Idealismus und Altruismus dazu dienen das eigene Ego zu befriedigen. Bin ich mir über white saviorism bewusst? Ja. Und ich denke viel darüber nach. Doch die Alternative dazu, zurückzugehen und nichts zu tun, mein Leben zu leben, zufrieden zu sein mit dem was ich habe. Es erscheint mir genauso sinnfrei. 

Inzwischen habe ich umgedacht, ich möchte nicht mehr primär hier sein, um etwas zu verbessern, zu verändern. Ich möchte hier sein um dazuzulernen, um zu wachsen. Meine eigene Wahrnehmung, meine Perspektive auf Dinge, meine Meinung nicht als Norm voraussetzen. Jeder Tag hier, im aber auch ausserhalb des Krankenhauses, ist eine Herausforderung, voll von Erkenntnissen, Frustrationen, Reibungen, Freuden und Überraschungen. Es gibt täglich Unzähliges im Umgang und Verhalten der Menschen, das mir fremd ist, dazu kommen Abläufe, Bürokratien, Hierarchien, Strukturen im Krankenhaus, die ich nicht verstehe. Wann hat man eine Gesellschaft verstanden?

Der Weg ist nicht zu unterschätzen - ich möchte ihn aktiv wertschätzen. Aber wie kann mir das gelingen, wie kann ich den Weg besser sehen solange ich darauf stehe? Der Rückblick hilft, die Frage, was habe ich eigentlich die letzten Monate gemacht, was war bzw ist das Ziel? Und wie wichtig ist es ein Ziel zu haben? Ich habe mein Ziel niedriger gesteckt, ich möchte mir auch noch die nächsten Monate Zeit geben zu erfahren, zu lernen und zu verstehen. Ich vertraue dem Fluss und dass alles am Ende gut kommt. Mein noch vor wenigen Monaten grosser Enthusiasmus eine Partnerschaft mit einer deutschen Klinik aufzubauen ist einem Vertrauen gewichen, dass sich zeigen wird, was richtig ist  und sich daraus eine hoffentlich sinnvolle und nachhaltige Zusammenarbeit entwickeln wird. 

Die Geschwindigkeit mit der Sachen hier passieren, färbt sich auf mich ab und ein positiver Aspekt davon ist die Entschleunigung im Alltag. Diese Entschleunigung hilft Dinge in Perspektive zu rücken und das Hier und Jetzt mehr zu schätzen. In einer Umgebung wo zeitliches Planen und Vorausdenken nicht gefördert wird, führt das Akzeptieren dieses so gefühlten Kontrollverlustes zu einer Fokussierung auf die Gegenwart, auf das was kontrolliert werden kann. Hört sich nach Resignation an, aber vielleicht ist es für unsere so auf Leistung, Zeit und Planung getrimmten Gehirne eine Erleichterung? 


Was meine Passion für die Berge angeht, bin ich nach dem Wachrüttler in Kenya aktiv geworden. Letzte Woche an den Eid Feiertagen bin ich das erste Mal mit zwei Kollegen in nahe gelegene Berge gefahren zum Wandern. Es war wunderschön, die Reise, die Landschaft, die Höhenmeter und die Aussicht! Es gab zwar keinen Gipfel zu erklimmen, dafür aber eine traumhafte Aussicht von der Lodgeterrasse ;)






Und noch ein kleiner Hinweis, ich habe mich entschieden einen zweiten Blog zu meiner beruflichen Passion und zum Thema Global Surgery zu beginnen. Ich veröffentliche ihn auf Englisch unter der folgenden Adresse: judithinglobalsurgery.blogspot.com

Ich freue mich von Euch zu lesen und zu hören!!

Comments

Anonymous said…
Liebste Judy, vielen Dank für diesen neuen Blogeintrag. Er wird mich wie immer laenger beschäftigen.
Was Du beschreibst, die Suche nach dem Sinn des Lebens, nach der Balance zwischen eigener Zufriedenheit und gar Glück und dem hohen Einsatz für die (meist selbstgesteckten) Ziele, ist das, was einen fast das ganze Leben umtreibt.
In einem Blog aus 23 schreibst du, dass du, die nun alle Freiheiten hat, gar nicht anders kann, als sie ganz dafür einzusetzen und zwar in Afrika. Da wo die Gegensätze von Arm und Reich, von Wunderschön und Barbarisch mit am stärksten sind.
Mit dieser Radikalität tun es aber nur die Wenigsten und deine konsequente Umsetzung ist wirklich bewunderungswürdig
Der in diesem Zusammenhang so oft benutzte und eher abwertende Begriff/Vorwurf der Naivität ist eher der Abwehr der Mitmenschen geschuldet, die sich ihrer eigenen Grenzen und Mutlosigkeit zwar bewusst werden ,aber nie ihre Komfortzone verlassen möchten.
Mit deinem aktuellen Vorsatz kann ich ganz mitgehen : Egal wie diese Suche mal ausgeht, Du wirst auf alle Fälle sehr davon bereichert werden, im Wissen, in Deinen Wertvorstellungen, in der Widerstandsfähigkeit , im Selbstwertgefühl und ganz sicher mit der Freundschaft und Liebe von anderen Menschen……und so nebenbei auch mit der Fähigkeit, Geduld zu haben, an der ich mich immer noch übe ;-)
Und Kompromisse bedeuten kein Scheitern, sondern Lösungswege.
Wir sind an deiner Seite.

Popular posts from this blog

Neue Wege, alte Wege, schöne Wege, dunkle Wege - Freude, Sehnsucht, Angst.

die kühle mwanzas..

Reality check number #